Erschienen am 14.05.2018 in der Süddeutschen Zeitung

Tonnenideologisch war das Ruhrgebiet schon immer spitze: Attribute wie “größte Industrieagglomeration Europas” oder “die meisten Theater, Hochschulen, und Museen” fallen oft. Abgesehen davon, dass es nur wahrscheinlich ist, dass im größten Ballungsraum Deutschlands die meisten Museen und Hochschulen zu finden sind, sagt die schiere Zahl noch nichts über die Qualität. Der seit den 1960er Jahren forcierte Aufbau der Forschungs- und Bildungsinfrastrukturen, die Internationale Bauausstellung Emscherpark, der Umbau des Emscherflusssystems, die Konzentration von Teilen der Planungshoheit auf den Regionalverband Ruhr und die vielen struktur- und sozialpolitischen Programme können aber als Erfolg angesehen werden. Und überhaupt scheint aus internationaler Perspektive der Strukturwandel gelungen, was sich unter anderem an den vielen Gruppen aus China, Osteuropa und sonst überall aus der Welt zeigt, die ins Revier kommen, um sich den Wandel erklären zu lassen. Seit Willy Brandt 1961 den Leitsatz ausgesprochen hat “Der Himmel über dem Ruhrgebiet muss wieder blau werden”, ist es ja auch wirklich besser geworden.

Allerdings ist das Ruhrgebiet tief gespalten: Nicht nur trennt die als Sozialäquator bezeichnete Autobahn A-40 das besser situierte südliche vom stark herausgeforderten nördlichen Ruhrgebiet, sondern auch auf Quartiersebene zeigen sich dramatische Unterschiede. Die in den strukturschwachen Quartieren lebenden Menschen verfügen häufig nicht über ein hinreichendes Bildungsniveau, um in den im Strukturwandel geschaffenen wissensbasierten Dienstleistungen Arbeit zu finden. Arbeiteten 1960 noch mehr als 60 Prozent der Beschäftigten im produzierenden Gewerbe, sind es heute weniger als 25 Prozent und damit weniger als der Durchschnitt Nordrhein-Westfalens. In Folge eines Rückgangs an Einkommen kommt es insbesondere in den Quartieren, in denen früher die im Produktionssektor Arbeitenden lebten, zu einem Verlust an Kaufkraft und sich selbst verstärkenden Abwärtsspiralen. Trotz vieler Versuche der Gegensteuerung sind die Ergebnisse nicht zufriedenstellend.

Der französische Ökonom Fourastié träumte bereits in den 1950er-Jahren davon, dass die Menschen kaum noch in Fabriken schuften müssen. Er sprach von der großen Hoffnung des 20. Jahrhunderts und glaubte, dass durch zunehmende Produktivitätsgewinne mehr Menschen im Tertiären Sektor arbeiten werden, dies Wohlstand, soziale Sicherheit, Bildung und Kultur und hohe Qualifikationsniveaus fördere und so zu einer Humanisierung der Arbeit beitrage. Tatsächlich ist durch Produktivitätssteigerung der Lebensstandard massiv gestiegen. Allerdings konnte der geringere Bedarf an Arbeit im Industriesektor nicht zu jedem Zeitpunkt und nicht in allen Regionen durch Arbeitsplatzangebote im Dienstleistungssektor kompensiert werden. Ein erheblicher Teil der Arbeit wurde in Länder verlagert, in denen die Produktionsfaktoren günstiger und die Sozial- und Umweltstandards niedriger sind. Hinzu kommt, dass die Einkommen im Dienstleistungssektor nicht in gleichem Maße gestiegen sind wie im Industriebereich. Dies liegt nicht nur an einer geringeren Wertschätzung der Dienstleistungsarbeit, sondern auch daran, dass steigende Löhne in der Regel durch steigende Produktivität finanziert werden. Produktivitätsgewinne sind im Dienstleistungssektor im Durchschnitt geringer als im produzierenden Gewerbe.

Dem Ruhrgebiet scheint im Strukturwandel das produzierende Gewerbe abhandengekommen zu sein. Dabei hätte das Ruhrgebiet hier viele Potenziale: die dichte Forschungs- und Wissenslandschaft, freie Flächen, einen großen Absatzmarkt, eine noch immer industriell geprägte Agglomeration etc. Durch fortschreitende Digitalisierungs- und Automatisierungsprozesse und eine immer flexiblere Produktion, aber auch veränderte Nutzungsansprüche (z.B. same-day-delivery), wird die Produktion teilweise wieder an oder in die Städte oder zumindest in die Industrieländer rücken. Adidas produziert wieder – natürlich hoch automatisiert – Turnschuhe in Bayern und der chinesische Textilhersteller Tianyuan Garments will mit Hilfe von 21 Roboter-Produktionsstraßen im US-Bundesstaat Arkansas T-Shirts produzieren.

Eine agglomerationsnahe Produktion kann im Idealfall lokale Ressourcen und lokal eingebettete Wertschöpfungsketten nutzen. Die Nähe zum Wohnen verlangt emissionsarme und ressourceneffiziente Produktions- und Transportweisen und erzeugt damit einen Innovationsdruck, der wiederum zu einer ökoeffizienten Produktion beiträgt. Vielfach entstehen Synergieeffekte mit kreativen Milieus und Dienstleistungen. Daher geht es gar nicht um die Frage, ob man Dienstleistungs- oder Industriestandort sein will. Für Agglomerationen gehört beides zusammen.

Dass dies gelingen kann, zeigt die Stadt Wien, die seit der Finanzkrise 2008 den Produktionssektor fördert bzw. schützt. Es besteht ein Konsens, dass sich nicht nur jeder das Wohnen in Wien leisten können soll, sondern dass auch jeder in der Stadt Arbeit finden kann und dafür Produktionsarbeitsplätze benötigt werden. So hat der Traditionswaffelbäcker Manner Teile seiner Produktion von der grünen Wiese nach Wien zurück in ein Gründerzeitquartier verlagert und produziert dort mit rund 400 Beschäftigten. Aber Wien setzt nicht nur auf industrielle Produktion, sondern fördert ebenso kleine Manufakturen.
Davon kann das Ruhrgebiet einiges lernen: Neben der Entwicklung des klassischen produzierenden Gewerbes geht es darum, das Neue zu fördern und zuzulassen, auch wenn die Arbeitsplatzeffekte zunächst einmal eher gering sind. Offene Werkstätten, Repair-Cafés, Urbane Landwirtschaft und kleinere Manufakturen, die das Leben urbaner, bunter und moderner machen und nicht nur zur Attraktivität und Reputation des Reviers beitragen, sondern auch Wissensspillover und Co-Creation anregen können, sind zwar Tropfen auf den heißen Stein, aber sie wirken mehrfach: als Innovationsgenerator, als Wertschöpfungsfelder, als Versorgungs- und Begegnungsorte.

Auf vieles kann die Region stolz sein: auf die hochspezialisierte Industrie, auf vielfältige Kulturangebote, darauf Schmelztiegel der Kulturen zu sein, auf den Aufbau einer immensen Bildungs- und Wissenschaftsinfrastruktur und auf den Fußball natürlich. Es ist aber mehr drin. Dafür scheint die Region noch immer Hilfe zu benötigen. Die geplante Ruhrkonferenz kann einen Beitrag leisten, wenn sie nun wirklich auch Substanz haben wird.