Allein in Nordrhein-Westfalen gibt es 6.000 Kirchengebäude. Der starke Rückgang an Gottesdienstbesucher:innen und Mitgliedern sowohl in der evangelischen als auch der katholischen Kirche bedeutet für die Gemeinden einen Rückgang an Kirchensteuern. Dieser Wandel führt dazu, dass Expert:innen damit rechnen, dass langfristig 25 bis 30 Prozent der Kirchengebäude leer fallen, weil sie nicht mehr gebraucht und Sanierungen nicht mehr finanziert werden können. Welches Ausmaß die Entwicklung der Kirchenschließungen, Umnutzungen und Nutzungsänderungen tatsächlich annehmen wird, ist schwer zu sagen.
Gemeinden, Initiativen, Vereine, Kommunen und Forschungsprojekte entwickeln derzeit Visionen für die leerstehenden Sakralbauten, die sich häufig an zentralen Orten in den Stadtteilen befinden. Neue Nutzungskonzepte werden erprobt und implementiert. Ein wichtiges Projekt in NRW ist das Projekt „Zukunft – Kirchen – Räume. Kirchengebäude erhalten, anpassen und umnutzen“ von Baukultur NRW in Kooperation mit der Architektenkammer NRW und der Ingenieurkammer-Bau NRW. Das Projekt arbeitet gemeinsam mit den Bistümern und Landeskirchen für das Ziel, die Gebäude zu erhalten, vor dem Verfall zu bewahren und sie angemessen an die Veränderungen anzupassen. Dafür gibt es unter anderem die Website www.zukunft-kirchen-raeume.de, die als Informations- und Inspirationsplattform für all diejenigen dient, die sich mit der Umnutzung von Kirchengebäuden auseinandersetzen möchten oder dies bereits tun. Die Beispiele der Kirchenumnutzungen zeigen, dass die Gebäude durch ihre günstigen Standorte in Stadtteilen, ihre identitäts- und gemeinschaftsstiftende Wirkung, ihre Ästhetik und Atmosphäre und nicht zuletzt ihre Erinnerungswerte wertvolle Potenziale für Stadtentwicklungsprozesse bieten.
Auch als Forschungsprojekt haben wir diese Wirkung durch die Zwischennutzung der ehemaligen Lutherkirche in Bochum-Langendreer Alter Bahnhof im Herbst 2017 erlebt, die wir gemeinsam mit dem Bahnhof Langendreer, Langendreer hat’s und der Stadtteilmanagement WLAB durchgeführt haben. Für das „LutherLAB – Festival der Urbanen Produktion“ haben wir die seit 2012 leerstehende Kirche für fünf Wochen zwischengenutzt. In dieser Zeit haben wir unterschiedliche Formate von Bau- und Brau- und weiteren DIY-Workshops, Cafénutzung über themenbezogene Abendveranstaltungen bis hin zur Fahrradwerkstatt ausprobiert und auch multifunktionale Nutzungen getestet. Für die Nachnutzung des Gebäudes hat sich im Juni 2018 der Verein „LutherLAB e.V.“ gegründet, der die Lutherkirche im Sinne sozialer, ökologischer und wirtschaftlicher Zwecke als Ort der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft entwickeln möchte und derzeit unterschiedliche Nutzungen und Formate erprobt, um ein tragfähiges Konzept für die Zukunft zu erarbeiten.
Auch in unserem letzten Reallabor in Gelsenkirchen-Schalke haben wir gemeinsam mit der „Materialverwaltung On Tour“ das untergenutzte Gebäude der St. Joseph-Kirche von Juli bis November 2021 belebt und dort das Festival „Walnuss und Gewebe“ veranstaltet, bei dem vor allem Austausch und Vernetzung im Fokus standen.
Ein weiteres Beispiel für die kreative und multifunktionale Nutzung eines Kirchengebäudes war das Hotel Total in Aachen (Nordrhein-Westfalen), das 2016 als Zwischennutzung in der leerstehenden Kirche St. Elisabeth stattgefunden hat. Initiiert wurde das Projekt von Patricia Yasmine Graf, Julia Claire Graf und Anke Didier, die ihre Vision eines offenen und urbanen Raums für Kunst, Kultur und Leben mit der dreimonatigen Zwischennutzung von August bis Oktober 2016 realisiert haben. Die Zwischennutzung als Hotel und Kulturort mit über 10.000 Besucher:innen und rund 60 Veranstaltungen war der Höhepunkt des 15-monatigen und über das Forschungs- und Entwicklungsprogramm CreateMedia.NRW geförderten Entwicklungsprojektes „Hotal Total“. Das Jahr vor der Zwischennutzung wurde vom Team genutzt, um die Kirche mit Studierenden, Arbeitslosen, Menschen mit Fluchterfahrung und vielen anderen Ehrenamtlichen herzurichten, Prozesse zu initiieren und Kooperationen einzugehen, um in dem sozial schwachen Nordviertel im Stadtbezirk Aachen-Mitte einen Willkommensort zu schaffen, die lokale Ökonomie zu stärken und internationale Reisende zu empfangen.
Auch die Chapel in Göppingen (Baden-Württemberg) ist ein Ort, an dem Kultur und Gemeinschaft im Raum einer ehemaligen Kirche ihren Platz gefunden haben. Der Verein Fabrik für Kunst und Kultur e.V. wurde in den 1990er Jahren gegründet und markierte den Startschuss für die Subkultur in Göppingen. Nachdem der Verein zunächst in einer alten Fabrikhalle beheimatet war, hat er 1998 die ehemalige Kirche Soldier Chapel des US-Militärs gemietet, in Stand gesetzt und ist dort eingezogen. Seitdem wird das Gebäude als Veranstaltungsraum für Festivals, Lesungen, Mittelaltermärkte, Workshops, Kabarett, Treffen für Jugendliche, Theater, Fashion Events und vieles mehr genutzt. Außerdem gibt es eine Werkstatt für Vereinsmitglieder, die vor allem für die Instandhaltung der Kirche genutzt wird, aber auch für andere Bauprojekte und private Vorhaben.
Die Beispiele zeigen, dass kreative Nutzungen ehemaliger Kirchengebäude einhergehen können mit produktiven Bausteinen. Vor allem Gemeinschaftswerkstätten eignen sich als Strang einer Mischnutzung der großen Gebäude. Mit ihrer Lage, Geschichte und Atmosphäre haben die Gebäude zudem eine gewisse Anziehungskraft für Menschen aus der direkten Umgebung und darüber hinaus und bergen großes Potenzial, um die Sichtbarkeit und Akzeptanz der in ihnen stattfinden Produktion zu erhöhen.
Als Forschungsprojekt sehen wir die Chance, leerfallende Kirchengebäude in Zukunft vermehrt als produktive urbane Orte zu nutzen und vermehrt Gemeinschaftswerkstätten (Beispiel: #Rosenwerk), Manufakturen (Beispiel: Atelier Guidetta Brozzetti), Produktionsbetriebe (Beispiel: Grubenhelden), Vertikal Farming bzw. urbane Landwirtschaft (Beispiel: Champignon Urbain), Handwerksbetriebe, Zentren urbaner Produktion und solidarisch organisierte Mischnutzungen (Beispiel: Handwerkerhof Ottensen) dort anzusiedeln.
https://www.zukunft-kirchen-raeume.de/
https://www.dnk.de/fokus/im-fokus-zukunft-der-kirchengebaeude-in-deutschland/