Urbane Produktion. Produktion und Stadt gehören untrennbar zusammen. So auch in Bochum. Es lohnt eine kleine Reise durch Bochum, um die vielfältigen lokalen Produzenten kennenzulernen, die lokal und stadtverträglich fertigen. Mit ihrer Produktion im urbanen Raum stärken sie die lokale Ökonomie und unterstützen damit die Entwicklung Bochums zu einer nachhaltigen Stadt. Jedoch ist festzustellen, dass die Renaissance der Stadt als Standort produzierender Betriebe durch vielfältige Restriktionen gehemmt wird.
Begleitet von einem kräftigen Applaus betreten Christoph und Felix die Bühne der Rotunde nahe der Bochumer Innenstadt. Nicht nur Kapital und Know-how, sondern auch Herzblut und Ausdauer steckten die beiden Gründer in ihre Idee. Von Beginn an waren die beiden überzeugt, dass ihr Ladegerät für das induktive Laden von elektronischen Geräten – der Wireless Charger – den Nerv der Zeit trifft. Angetrieben von ihrem Gründergeist tüftelten sie zwei Jahre an ihrer Idee und gründeten ChargAire. Christoph und Felix: Zwei Gründer, wie es sie viele Male in Deutschland gibt? Mitnichten. Was die beiden so besonders macht? Ihre Unternehmensphilosophie, die sich nicht an klassischen Erfolgsfaktoren misst.
Die Gründer von ChargAire: Felix Krewerth und Christoph Martinetz (Foto: Martinetz und Krewerth)
Sie produzieren ihre Akkus lokal in der Stadt Bochum im Stadtteil Hamme. In Handfertigung. Die Materialien wie Holz, Leder und Edelstahl stammen aus der Region. Die kurzen Transportwege halten die Umweltbelastung gering. Arbeitsplätze entstehen vor Ort und nicht in Fernost. So ist es nicht verwunderlich, dass Christoph und Felix den Sonderpreis Urbane Produktion des Bochumer Gründungswettbewerbs Senkrechtstarter gewannen. Urbane Produktion? Urbane Produktion bezeichnet die Herstellung und Bearbeitung materieller Güter in dicht besiedelten Gebieten, die häufig lokale Ressourcen und lokal eingebettete Wertschöpfungsketten nutzt. Das Produzieren in der Stadt wird durch neue emissionsarme und ressourceneffiziente Produktionsweisen ermöglicht.
Der Wireless Charger von ChargAire (Foto: Martinetz und Krewerth)
Eine neue Technologie entwickelte auch das Unternehmen ingpuls mit Sitz im Bochumer Stadtteil Werne. Vor einigen Jahrzehnten war Werne noch ein bedeutender Bergbauort mit vielen Zechen, in dem das Grubengold der Region Erfolg verschaffte. Rauchende Schlote gehören heute der Vergangenheit an. Doch was nach der Schicht geblieben ist, sind der Arbeitswille und die Loyalität der Bochumer. Dies ist ein Grund dafür, warum sich Christian, André und Burkhard zum Standort Bochum bekennen. Neben dem Ruhrpott-Charme punktet Werne mit der Nähe zu den zahlreichen Universitäten und Forschungseinrichtungen sowie bezahlbaren Miet- und Immobilienpreisen. Urbane Produktion in Werne? Na klar! Das dachten sich auch die Gründer von ingpuls. Die drei stellen Formgedächtnislegierungen für die Automobilindustrie her. Diese reagieren auf Temperaturveränderungen und können starke Verformungen erreichen. Sie gehören zu den sogenannten smart materials. Smart soll auch die Stadt Bochum werden. Nach dem Bergbau, nach Nokia und nach Opel kündigt sich eine smarte Zukunft an. ingpuls macht es vor. Der Geburtsort von Christians, Andrés und Burkhards Business-Idee ist die Ruhr-Universität Bochum. Von einer Lerngruppe, über eine gemeinsame Doktorarbeit zum eigenen Business. Sie starteten senkrecht – und das erfolgreich – wie sich nach kurzer Zeit herausstellte. Getüftelt und produziert wird heute nicht mehr in einer der zehn größten Universitäten Deutschlands, sondern auf einem ehemaligen Zechengelände. Nach jahrelangem Leerstand brachte ingpuls wieder Leben in die alten Hallen. Auch das kann Urbane Produktion. Leerstände aktivieren, Räume beleben. In Sichtnähe befindet sich der alte Förderturm der Zeche Robert-Müser, der an die alten Zeiten erinnert. Was jedoch damals wie heute nicht wegzudenken ist, ist die Produktion. War Produktion im Ruhrgebiet früher noch laut und dreckig, findet heute dank Industrie 4.0 und der Digitalisierung eine saubere und nachhaltige Produktion statt.
Emissionsarm und sauber ist auch eine Fahrt mit dem Rad. Wussten Sie, dass die bereits über mehr als ein Jahrhundert erhaltene Form des Fahrradrahmens, die einer Raute ist? Raute zu Englisch: „diamond“. „Diese diamantene Seele des Fahrrades von Hand zu fertigen, ist Gegenstand meines Unternehmens und auch das, was mich antreibt“ erzählt Stephan Ensthaler von Le Canard Rahmenbau stolz. Er betont die Kraft des Erlebnisses, etwas selber zu produzieren. So ist es bei Le Canard möglich, seinen eigenen Fahrradrahmen zu bauen.
Stephan Enstahler von Le Canard Rahmenbau (Foto: Enstahler)
Dem Selbermachen wird aktuell auch in der Stadtentwicklung eine große Bedeutung beigemessen. Es stärkt das Bewusstsein und die Wertschätzung der Bewohner für ihre Umwelt, für das Miteinander und für ihren Stadtteil. Selbermachen ist auch das Motto des Bochumer Vereins LutherLAB, der in der ehemaligen Lutherkirche im Stadtteil Langendreer-Alter Bahnhof sein Quartier aufgeschlagen hat. Dieser geht aus dem Forschungsprojekt UrbaneProduktion.ruhr hervor, das aktuell Urbane Produktion in Bochum erforscht. Erprobt wurden zahlreiche Nutzungen in der leerstehenden Kirche. Es wurde diskutiert, gebraut, gesägt und gehobelt. Dabei sind viele Späne gefallen. Zahlreiche Ideen kamen für eine Nachnutzung zusammen, um den produktiven Gemeinschafsort am Leben zu erhalten.
Urbane Produktion in der Lutherkirche (Foto: Gehnen, die Urbanisten e. V.)
Nun stellt sich die Frage, was Bochum benötigt und was zudem in unmittelbarer Nähe des geplanten Radschnellweges RS 1 funktioniert. Wie wäre es zum Beispiel mit einem Fahrrad aus dem 3D-Drucker? Das Unternehmen RUHRSOURCE ist auf dem Gebiet der „additiven Fertigung“ (sprich: 3D-Druck) höchst versiert. Auf der Basis von digitalen 3D-Konstruktionsdaten wird Material Schicht für Schicht aufgebaut. Materialüberschuss wird somit vermieden, wodurch die Produktion äußerst ressourceneffizient gestaltet wird. Christian, Dominik und Christopher – die Gründer von RUHRSOURCE – wurden 2017 mit dem ersten Platz des Bochumer Gründungswettbewerbs Senkrechtstarter für ihren Businessplan ausgezeichnet. Derzeit sind sie viel unterwegs, um die neuen Technologien bekannt zu machen. Seinen Sitz hat das Unternehmen mitten in einem bürgerlichen Wohngebiet im Bochumer Stadtteil Wattenscheid. Geprägt ist die Geräuschkulisse im Umfeld daher vom Lachen der spielenden und tobenden Kinder ringsum. Von der Produktion ist nichts zu hören.
Dominik Halm von Ruhrsource (Foto: Halm)
Knapp 1,5 Kilometer Luftlinie entfernt ist der Schokoladenhersteller Ruth Confiserie ansässig. Um transparent zu machen, wie die verschiedensten Schokoladenprodukte sowie die Formen und Schablonen zur Süßwarenherstellung hergestellt werden, plant das Unternehmen die derzeitige Fabrik im Stadtteil Wattenscheid zu einer gläsernen Fabrik auszubauen. Hiermit reagiert die Ruth Confiserie auf das gestiegene Bewusstsein der Kunden für die Auswirkungen des eigenen Konsums. Wo und wie wurden die Produkte, die ich kaufe, hergestellt? Unter welchen Bedingungen wurde gefertigt? Welche Lieferwege hat das Produkt bereits hinter sich?
Schokoladenproduktion in der Ruth Confiserie (Foto: Ruth)
Urbane Produktion greift diese Fragen auf und liefert Antworten, indem gezielt lokale Ressourcen und lokale Wertschöpfungsketten genutzt werden. Ganz konkret geht es um Lokalität, um Nachhaltigkeit und um das Mit- und Selbermachen. Auch wenn vielerorts vom Zeitalter der postindustriellen Stadt die Rede ist, zeigen die hier vorgestellten Betriebe, dass Produktion nicht aus unseren Städten verschwunden ist. Ganz im Gegenteil: In Form von kleinteiligen Produktionsbetrieben findet Urbane Produktion wieder verstärkt statt. So auch in Bochum.
Flächen- und Kostendruck, der Fachkräftemangel im klassischen Handwerk und fehlendes politisches Commitment setzen der Urbanen Produktion derzeit jedoch Grenzen. Tendenzen der Verdrängung produzierender Betriebe aus dem urbanen Raum begründen die Forderung nach zeitnahem Handeln. Damit die Transformation Bochums zu einer nachhaltigen Stadt gelingt und dies nicht nur eine Vision bleibt, bedarf es Bekenntnis und Mut zur Urbanen Produktion. Eine lediglich punktuelle Betrachtung ist dabei nicht zielführend. Neben der hochfrequentierten Innenstadt gilt es den Blick in die Fläche und insbesondere auf benachteiligte Quartiere zu richten. In diesen bestehen neben Handlungsbedarf auch enorme Potenziale hinsichtlich der Schaffung produktiver Quartiere, in denen sowohl eine bauliche als auch soziale Mischung gelingen kann. Es bleibt der Appell: Neben Perspektiven wie der GIGABIT- oder der Smart City dürfen wir die Produktion nicht aus dem Blick verlieren!