Unter dem Titel Perspektiven zum Thema Urbane Produktion bzw. Urbane Produktion statt (lange) Lieferketten wurde der folgende Beitrag von Hannah Brack und Kerstin Meyer in der Dorfpostille (Jahrgang 39, Ausgabe 145, Winter 2020, online: https://dopo-online.de/) veröffentlicht.

Die COVID-19-Pandemie verdeutlichte, wie vernetzt wir weltweit sind – nicht nur digital, sondern ganz reell: zum Beispiel durch unsere Möglichkeit des Reisens und globale Warenströme. Neben den Vorteilen, die die Vernetzung mit sich bringt, werden die Schattenseiten nun jedoch immer deutlicher: Wir bekommen vor Ort nicht mehr mit, welche Auswirkungen die Produktion der Waren mit sich bringt, die wir tagtäglich konsumieren. Zu Beginn der Pandemie war zudem ganz konkret zu beobachten, was passiert, wenn es zu Einschränkungen in der globalen Logistik sowie plötzlich erhöhter Nachfrage kommt. Neben dem verständlichen Mangel an Masken und Desinfektionsmitteln sei an die Schlangen vor den Läden erinnert, wenn eine Lieferung Klopapier eintraf. Viele Menschen vor Ort nahmen diese Herausforderung an und wurden daraufhin kreativ: Schnapsbrennereien produzierten plötzlich Desinfektionsmittel; Textilunternehmen, Forschungseinrichtungen oder stillgelegte Gastronomiebetriebe produzierten Atemschutzmasken; Bäckereien teilten ihre Hefe.

An diesen Beispielen wird ein Vorteil lokaler Produktion sichtbar: Fehlende Produkte können zielgerichtet hergestellt werden, da es eine direktere Rückkoppelung zum Bedarf gibt. Darüber hinaus sind die Lieferketten und Transportwege kürzer, was der Umwelt zu Gute kommt. Auch übernehmen lokale Beziehungen zwischen Konsument*in und Produzent*in eine Kontrollfunktion: Wer würde schon bei seinem Nachbarn kaufen, wenn der das Grundwasser vergiftet oder die Luft verpestet?

Mit den Möglichkeiten von lokaler Produktion beschäftigen wir uns auch im Forschungsprojekt UrbaneProduktion.Ruhr II. Unter urbaner Produktion verstehen wir dabei die Herstellung und Bearbeitung von materiellen Gütern innerhalb von dicht besiedelten Gebieten, wie zum Beispiel in Langendreer-Alter Bahnhof. Im Idealfall werden dabei lokale Ressourcen und Wertschöpfungsketten und aufgrund der Nähe zum Lebensraum nicht störende, emissionsarme und ressourceneffiziente Produktions- und Transportmittel genutzt (siehe Handbuch Urbane Produktion).

Unter dem Titel „Urbane Produktion – Produktion zurück in die Stadt?!“ hat Anfang September die Wanderausstellung des Forschungsprojekts den Auftakt im LutherLAB gefeiert. Damit kehrte das Forschungsprojekt an den Ort zurück, an dem 2017 mit dem Festival „Langendreer Selbermachen“ bereits erste Aktionen zum Thema stattfanden. In der Ausstellung zeigen wir Beispiele, wie neue und alte „Produktion vor Ort“ aussehen kann und welche Möglichkeiten es dazu heute gibt. Dabei spielen ganz unterschiedliche Branchen und Fragestellungen eine Rolle: von traditionellen Handwerksbetrieben über Logistikkonzepte bis hin zur lokalen Wertschöpfung. Beispielsweise:

  • Welche Art der Produktion macht in der Stadt Sinn?
  • (Inwiefern) Ist städtische Produktion nachhaltig(er)?
  • Wie können kleinteilige urbane Produzent*innen ihren Lebenserwerb verdienen?
  • Was kann & will ein*e jede*r selbst mit Blick auf lokale Wertschöpfungsprozesse beitragen?

Wir wollen uns der Komplexität und Unsicherheit der Welt dabei nicht entziehen: Ein Forschungsprojekt kann keine allgemeingültigen Lösungen und Antworten aufzeigen. Vielmehr wollen wir Raum lassen zum Mitreden, Mitmachen und Mitlernen. Deshalb organisierten wir im Rahmen der Wanderausstellung im LutherLAB vier weitere Veranstaltungen, bei denen Menschen mitreden, mitmachen und ihre Fähigkeiten ausprobieren konnten.

An zwei Wochenenden wurde ein Lehmofen für den Stadtteil gebaut. Lehm ist einer der ältesten Baustoffe und wird schon seit Urzeiten als Baumaterial verwendet, er ist fast immer lokal verfügbar und ohne großen Energieaufwand nutzbar. Unter der Anleitung von Jascha Roosen, der auf den Bau mit Lehm und weiteren Naturmaterialien spezialisiert ist, lernten die Teilnehmenden Aufgaben wie mauern, Lehm mischen und modellieren sowie den Bau eines Holzüberstandes selbst auszuführen. Mitorganisator*innen neben dem Forschungsprojekt waren die Gartengruppe des LutherLABs und das MachenStattMotzen (MaStaMo) Skillsharing Camp der BUNDjugend NRW. Nach der Fertigstellung soll der Ofen von Interessierten aus dem Stadtteil in Absprache mit der Gartengruppe (garten@lutherlab.de) mitgenutzt werden können. Die Gartengruppe plant insb. gemeinschaftliche Aktionen zum Backen von Pizza und Brot sowie Dörren von Obst und Gemüse.

Auch das Bierbrauen, als einer der ältesten Herstellungsprozesse, fand in unserem Programm seinen wohlschmeckenden Platz. So wurden am 4. September 2020 etwa 20 Personen von Gerd Ruhmann in die Welt des Bieres eingeführt. Der erfahrene Biermacher aus dem Ruhrgebiet brachte den Teilnehmenden sieben verschiedene Biersorten sowie jede Menge Hintergrundwissen und Erfahrungen mit. Dabei sind ihm die Lokalität der Zutaten und möglichst kurze Wege wichtig; daher möchte er auch im Haus Wiesmann in Wattenscheid (www.haus-wiesmann.de) eine kleine Lernbrauerei etablieren. Während es früher viele Kleinbrauereien gab, wird ein Großteil des Bieres heute von wenigen Großbrauereien hergestellt. Dadurch sind nicht nur Transportwege länger geworden, sondern es leidet, dem Biermacher zufolge, auch häufig der Geschmack. Aus seiner Erfahrung gibt er mit einigem Witz gerne weiter, welche verschiedenen Geschmacksrichtungen das Bier alle zu bieten hat. Für die Teilnehmenden war der Abend somit nicht nur eine Gaumenfreude.

Am darauffolgenden Samstag wurden unter Anleitung von Dilara Buran und Lars Volmerg vom Verein Die Urbanisten aus Dortmund fünf Wurmkisten gebaut. Wurmkisten sind Mini-Schnellkomposter für den Einsatz im Haus, in dem bestimmte Küchenabfälle von Würmern zu wertvollem Kompost zersetzt werden. Neben handwerklicher Anleitung wurden die Teilnehmenden über grundlegende Wurmkunde informiert, sodass sie gut mit den Würmern in der Kiste zusammenarbeiten und so zu einem gesunden Humusaufbau beitragen können. Der Humus kann anschließend für Zimmerpflanzen oder auf dem Balkon bzw. im Garten genutzt werden und schließt so den kleinsten Kreis urbaner Produktion: Den Eigenanbau von Gemüse und Obst im Garten oder auf dem Balkon. Gesunder Humus ist heute durch die intensive Landwirtschaft mit Monokulturen und Kunstdüngern seltener geworden. Dabei ist Humus besonders wichtig für die Widerstandsfähigkeit des Bodens, der Artenvielfalt von Tieren und damit letztlich auch uns Menschen.

Natürlich reicht der Eigenanbau nicht aus, um unseren Bedarf zu decken. Entsprechend fand zum Abschluss der Wanderausstellung im LutherLAB ein Infoabend zur Solidarischen Landwirtschaft, kurz Solawi, statt. Die geladenen Gäste Elmar und Miriam Schulte-Tigges von der Solawi Kümper Heide aus Dortmund erläuterten zunächst die aktuelle Situation in der Landwirtschaft mit ihren Monokulturen und Monopolen. Anschließend wurde aufgezeigt, wie die solidarische Form der Landwirtschaft einen Ausweg bieten kann. Die Solidarität mit den Landwirt*innen schafft die Möglichkeit, Landwirtschaft so zu betreiben, dass das Land geschützt und nachhaltig bewirtschaftet wird. Innerhalb der Abnehmergemeinschaft erlaubt das Solidaritätsprinzip eine Teilhabe unabhängig vom Einkommen. In Bochum gibt es eine Initiative, die eine solidarische Landwirtschaft ins Leben rufen möchte. Derzeit sucht diese eine passende Fläche (mind. 2 ha) in Bochum (www.solawi-bochum.de).

All diese Beispiele weisen auf Such- und Lernbewegungen von Menschen hin, die sich für eine Welt einsetzen, in der Mitmenschen und unsere Mitwelt geschätzt werden und wir diese Wertschätzung auch durch unsere Handlungen leben. Mit dem Blick auf das große Ganze und darauf, was sich alles ändern muss, um die aktuellen Krisen abzuwenden, mag das vielleicht nach unbeholfenen und albernen Versuchen aussehen, etwas zu verändern. Andererseits können sich genau jene kleinen Aktionen auch zu Keimzellen der Veränderung und Anpassung entwickeln. Wie bei einer Lawine, wo eine kleine Änderung andere inspiriert und ansteckt, etwas Neues auszuprobieren, können so kleine Veränderungen zur Bewegung im Ganzen führen.

Und vielleicht ist es ein Wert an sich, dass Menschen sich in einer Welt, in der wir alles fertig aus dem Supermarkt oder im Internet kaufen können, in ihrer Selbstwirksamkeit als relevanter Teil einer größeren Welt erleben können, zu deren Mitgestaltung sie auch mit kleinen Aktionen etwas beitragen können. Was möchtest Du tun, für eine Welt, die Du Dir wünscht?

Weitere Informationen zum Projekt und zur Wanderausstellung gibt es hier auf unserer Webseite oder auf Nachfrage unter info (at) urbaneproduktion.ruhr.