Atelier Giuditta Brozzetti, Perugia
Traditionelle Webtechnik in umgenutzter KircheSteckbrief
Via T. Berardi 5/6, 06123 Perugia, Italien
Typ Urbaner Produktion: Weberei
Produkte: Herstellung von Textilien wie Tischdecken, Kissenhüllen, Schals und mehr
Produktionsart: Handgemacht mithilfe von Original Webstühlen aus dem 19. Jahrhundert, einem Pedal-Webstuhl aus dem 18. Jahrhundert und einer traditionellen Webtechnik
Gründung: 1921 (an anderem Standort), seit 1996 an jetzigem Standort
Rechtsform: società cooperativa (ähnlich einer Genossenschaft) mit 9 Mitgliedern, davon 3 Beschäftigte
Standort: ehemalige Kirche im Stadtteil Elce in Perugia (Italien)
Fläche: 250 m²
Zielgruppe: v.a. Tourist:innen aus mit Interessen an der traditionellen Arbeit, Schüler:innen und Studierende aus Italien und dem Ausland, kunsthistorisch interessierte Menschen aus Perugia und Italien
Kontakt: Email: email@brozzetti.com
Phone: +39 075 40236
Mobile: +39 348 5102919
Website: https://www.brozzetti.com/en/
Atelier Guidetta Brozzetti
Entwicklungsgeschichte
Das Atelier wurde 1921 von Marta Cucchias Urgroßmutter in Perugia gegründet. Nach mehreren Standortwechseln war die Werkstatt lange Zeit in die Villa der Familie untergebracht. Marta Cucchia hat das Atelier 1995 mit 23 Jahren übernommen, nachdem ihre Mutter den Familienbetrieb schließen musste, und ist 1996 mit dem Unternehmen inklusive der alten Webstühle aus dem 19. Jahrhundert in das leerstehende Kirchengebäude gezogen. Seitdem betreibt sie dort das Atelier als Produktionsort, Museum, Laden und Veranstaltungsraum.
Werkstatt, Museum, Kurse und Shop
„It’s not to make money, it’s a passion.“ (Marta Cucchia)
Die Weberei in der Kirche ist kein reiner Produktionsort, sondern ebenfalls ein Museum und damit für die Öffentlichkeit zugänglich. Die Besucher:innen können die gesamte Werkstatt betreten und den Produktionsprozess erleben. Alle Produkte sind handgemacht; die Materialien kommen aus Italien. Das Garn stammt beispielsweise von einer Färberei aus Norditalien. Die Wartungsarbeiten und Reparaturen der Webstühle übernehmen zwei lokale Tischlerunternehmen aus Perugia.
Das Team bietet geführte Touren durch das Atelier an, in denen die Geschichte des Gebäudes, die Webtradition, das Handwerk und die Geschichte des Unternehmens thematisiert werden. Die Produkte werden im Laden verkauft, der sich ebenfalls im Kirchengebäude befindet. In der Werkstatt werden außerdem Kurse angeboten, um die Webtechnik und das Wissen über das traditionelle Handwerk weiterzugeben. Das Atelier ist eine der letzten Webereien in Italien, in denen Textilien noch per Hand gewebt werden.
Der Kirchenraum wird als Ort für Kunstausstellungen, Konferenzen und andere Veranstaltungen vermietet. Daneben finanziert sich das Atelier durch den Verkauf der Produkte sowie die Einnahmen aus Führungen und Workshops für Einzelpersonen. Seit fünf Jahren wird das Atelier außerdem von einer internationalen Stiftung unterstützt, deren Geld für unterschiedliche Projekte eingesetzt wird. Die Stiftung organisiert zudem touristische Reisen. Die Italien-Reisen der Stiftung beinhalten in der Regel auch einen Besuch im Atelier Giuditta Brozzetti, wodurch Menschen aus der ganzen Welt kommen.
Da das Gebäude im Besitz von Martas Familie ist, muss das Atelier keine Miete zahlen. Fixkosten entstehen durch Strom, Gas, Abfallsteuer (die sich in Italien nicht nach der Menge, sondern der Flächengröße bemisst) und Personal.
Das Kirchengebäude als Produktionsstandort
Die denkmalgeschützte Kirche wurde 1212 von den Franziskanern gebaut und später von einem Benediktinerorden baulich erweitert. Nachdem Napoleon an die Macht gekommen war, wurde die Kirche in den frühen 1800er Jahren entweiht und blickt seitdem auf eine lange Produktionsgeschichte zurück. Bereits vor dem Atelier Guidetta Brozzetti wurde die Kirche von mehreren Unternehmen als Produktionsstandort für Textilien genutzt. Bevor Marta Chucchias Vater die Kirche kaufte, wurde sie vom Unternehmen La Salamandra genutzt, deren Keramikproduktion sich in der Kirche befand. La Salamandra renovierte den Glockenturm und verzierte ihn mit Keramikelementen, die bis heute erhalten sind. Nachdem das Unternehmen insolvent gegangen war, ist die Kirche wieder leergefallen und Martas Vater hat sie gemeinsam mit den umliegenden Häusern in den frühen 1950er Jahren gekauft. Bis zum Ende der 1970er Jahre war die Kirche an ein Aktionshaus vermietet. Danach stand sie bis zum Umzug des Ateliers erneut leer.
Marta Cucchia ist mit ihrem Atelier 1996 aus zwei Gründen in die leerstehende ehemalige Kirche San Francesco gezogen: Zum einen befand sich die Kirche bereits im Familienbesitz und es war ein langer Traum ihrer Eltern, die Kirche nutzbar zu machen. Zum anderen wurde das Gebäude, in dem sich das Atelier bis dato befand, abgerissen. Nach 20 Jahren Leerstand in der Kirche, hat es sechs Monate gedauert, bis die Infrastruktur so hergestellt wurde, dass die Werkstatt mit Webstühlen, Schärmaschine und dem weiteren Equipment eingreichtet werden konnte. Das Gebäude wurde renoviert, es wurde Strom verlegt und die Kirche wurde an die Gasleitung angeschlossen.
Derzeit wird die gesamte Gebäudefläche von 250 m² genutzt. Das Kirchenschiff fasst nun die Werkstatt, in der die Webstühle stehen. Ein Querschiff wird als Teil der Werkstatt für die Nachbereitung der Textilien (bügeln, nähen) genutzt. Im helleren Querschiff steht die Schärmaschine. In der Apsis befindet sich das Büro, der Empfangsbereich für Besucher:innen und der Eingang zum Shop. Im Keller befinden sich die Toilettenräume. Die Vorteile des Kirchengebäudes sehen Marta und ihr Team vor allem in dem Charme und der Atmosphäre des Gebäudes. Darüber hinaus bietet es für die Webstühle ausreichend Platz, was in „normalen“ Gebäuden selten der Fall ist. Für die Marke „Atelier Giuditta Brozzetti“ ist die umgenutzte Kirche zudem Teil der Identität und erhöht den Wiedererkennungswert international. Marta Cucchia hat auch ein persönliches und familiäres Interesse am Erhalt des Gebäudes, seiner Zugänglichkeit für andere Menschen und der Möglichkeit die traditionellen Webtechniken sichtbar zu machen.
Nachteile der Kirchennutzung sieht Marta Cucchia vor allem in den hohen Fixkosten, den Instandhaltungskosten und den bürokratischen Hürden bei Renovierungsmaßnahmen. Im Winter wird die Kirche nur bedingt warm, was auch für die Funktionalität der Webstühle nicht optimal ist. Für die Zukunft sind eine bessere Isolierung und eine Optimierung der Beleuchtung geplant. Bei den letzten Maßnahmen (Sanierung des Daches und der Elektroinstallationen) kam es jedoch zu monatelangen Bauverzögerungen durch die bürokratischen Prozesse mit der Verwaltung.
Die durch die Corona-Pandemie bedingten Schwierigkeiten und die fehlenden Besucher:innen stellen das Unternehmen vor wirtschaftliche Herausforderungen. Marta Cucchia und ihr Team fokussieren sich daher in naher Zukunft vor allem auf den Erhalt des Kirchengebäudes als Standort, der eng mit der Geschichte des Ateliers verbunden ist.
Verflechtungen & Einbettung des Betriebs in das räumliche Umfeld
Das Atelier ist ein touristisches Ziel und aus der New York Times, dem Reiseführer Lonely Planet und der Plattform TripAdvisor bekannt. Viele Menschen kommen extra für einen Besuch des Ateliers nach Perugia, wodurch die umliegenden Gastronomiebetriebe, Geschäfte, Hotels und Museen profitieren. In Perugia selbst und im Stadtteil ist das Atelier weniger bekannt. Der direkte Kontakt zu den Nachbar:innen findet kaum statt. Trotzdem wünscht sich Geschäftsführerin Marta Chucchia, dass das historische Erscheinungsbild des Viertels erhalten und gepflegt wird und so ein touristisches Ziel bleibt.
Das Tourismusbüro der Stadt Perugia bewirbt das Atelier und sein Museum nicht, da es in privater Hand und nicht öffentlich ist. Mit einem anderen Museum, das sich auf Glasproduktion spezialisiert hat, kooperiert das Atelier Guidetta Brozzetti. Beim Ticketverkauf gibt es jeweils Rabattgutscheine für das andere Museum. Das Atelier ist Teil des “Umbria Terre Musei”, dem Museumsnetzwerk der Region Umbrien. Für Legitimierungsprozesse ist es teilweise hilfreich. Obwohl das Atelier in einem denkmalgeschützten Raum angesiedelt ist und das Team die Zugänglichkeit auf eigene Kosten für die Öffentlichkeit sichert, erhält das Atelier dadurch keine finanzielle Unterstützung. Das Atelier ist Mitglied in der Kunsthandwerkgesellschaft Perugia.
Produktion in Kirchengebäuden
Marta Cucchia und ihr Team sind vor allem von dem Charme von Kirchenimmobilien überzeugt: „They are beautiful empty buildings.“ Die historischen Gebäude können Teil einer Marke und der Unternehmensidentität sein und das kann nicht nur für eine Weberei, sondern auch für andere Produktionsstätten funktionieren. Wichtig ist für das Team vom Atelier vor allem die Verknüpfung der Nutzung mit dem Gebäude. Als Negativbeispiel wurden Nutzungen von historischen Gebäude durch Fair-Fashion-Modeketten angebracht, die das Gebäude für ihre Werbezwecke nutzen, aber keine inhaltliche Verbindung haben.
Wichtig ist, laut Marta Cucchia, die Wertschätzung und Dankbarkeit für das Gebäude und seine Geschichte und die Anerkennung seiner Leistung für ein Unternehmen. Zudem sei die Nachnutzung vorhandener Gebäude in der Regel sinnvoller und schonender als ein Neubau.